"Johannes Hammels Filme sind (und stellen) Materialfragen: Wie verweisen Bildoberflächen auf die Zeiten ihrer Entstehung und die Ursachen ihrer Herstellung? Wie unterscheiden sich Kulissen von Originalschauplätzen? Und wie leicht sind die Indizien zu fälschen, die sich im Filmmaterial, in den Interieurs und im Textildesign finden? Es geht in seinen Filmen nicht nur um Raumwirkung, sondern auch um die ästhetischen Normen alter home movies, um Super-8- und Identitäts-Projektionen – und etwa um die doppelte Instabilität des Raumlichts und der Filmbelichtung. Dem Schein ist nicht zu trauen: Die Grenze zwischen authentischen und fingierten Bildern ist hauchdünn."
(Stefan Grissemann)
PROGRAMM
Ekklesia | 2024 | 18 min | Farbe und s/w | Preview
ein Film von Johannes Hammel | Kamera: Johannes Hammel und Jan Zischka | Drehkonzept und Schnitt: Johannes Hammel |Performance: Choreografie und Konzept: Boris Charmatz (Noli me tangere: A Happening for Herz-Jesu) | Performer*innen: Laura Bachman, Régis Badel, Boris Charmatz, Guilhem Chatir, Tatiana Julien, Georges Labbat, Noémie Langevin, Johanna Elisa Lemke, Bruno Senune, Solène Wachter
Ich habe die Gelegenheit gehabt, den Tänzer und Choreographen Boris Charmatz mehrere Tage bei der Entwicklung, Probe und Aufführung seiner Performance Noli me tangere mit seinen Tänzer*innen in Graz anlässlich des steirischen Herbstes in der Herz-Jesu-Kirche mit der Kamera begleiten können.
In seiner neuen Performance tritt Boris Charmatz in einen Dialog mit der neugotischen Architektur und dem mystischen Hintergrund der Herz-Jesu-Kirche, um den Begriff ekklēsía (Griechisch für „Versammlung“) zu untersuchen.
In einem choreografischen Experiment nutzt Charmatz den physischen Raum der Kirche, um zu erörtern, wie die menschliche Architektur einer Versammlung heute aussehen würde und wie sie die Vorstellung von der Kirche, wie wir sie kennen, erschüttern könnte. Charmatz stellt Körper in Kontakt, in einer Choreografie, die auf Punk-Energie, extrem schnellen Bewegungen und lang gezogenen Stimmen aufbaut, im Dialog mit den performativen Prinzipien der Wiederholung und Vibration von Orgelkompositionen und Glocken.
Der Film nimmt eine Entwicklung von anfangs dokumentarischen Elementen von Probe- und Performancesituationen im Stile des direct-cinema, gedreht in grobkörnigem blassen Farbmaterial zu einer immer abstrakter werdenden und körperbetonteren Form und entwickelt sich zunehmend von Farb- zu stilisierteren Schwarzweissbildern. Die Zuseher*innen der Performance werden in fast traumartig anmutenden Bildern in den Film miteinbezogen.
Jour sombre | 2011 | 8 min | s/w
ein Film von Johannes Hammel | Musik: Heinz Ditsch
„Jour sombre ist ein kompakter Umwelt-Thriller, gegen den Aufklärungsfilme im Stil von An Inconvenient Truth wie Kindergarten-Ökologie anmuten.“
(Michael Omasta)
"Wir sehen Menschen in Gruppen und verstreut in alpinem Gelände, im Hintergrund das gleißende Weiß eines von einer hellen Sonne beschienen Gletschers. Feldstecher mit dem Blick nach oben gerichtet. Zum Himmel, zur Sonne hin?
Dann plötzlich eine Blase, die das Bild einnimmt, die Landschaft quasi verschlingt, ein grelles Blenden, als würde sich ein vom Eis reflektierter Lichtstrahl direkt in das Filmmaterial oder in die Retina einbrennen. Weitere Blasen folgen, die ganze Szenerie kocht auf. Heinz Ditschs Tonspur leistet dem beunruhigenden Szenario Vorschub.
Durch die Auswahl des Bildmaterials und das Motiv des „Erhitzens“ der Bildoberfläche drängen sich unmittelbare aktuelle Realitätsbezüge auf, das „Schmelzen“ wird zur Allegorie für globale klimatische Veränderungen.
Denn wenn dann im letzten Teil das Bild der idyllischen Almhütte zunehmend zerfließt und kleine amöbenartige Partikel in die entstandenen Ritzen und Spalten drängen, ist die Assoziation zur Evolution neuer Mikroorganismen in ökologischen Umbruchszeiten nicht mehr von der Hand zu weisen."
(Gerald Weber)
Die Badenden | 2003 | 4 min | Farbe
ein Film von Johannes Hammel | Musik: Heinz Ditsch
„Ein berauschender Tanz aus Farbflecken, Unreinheiten, Verschleißspuren. Die Badenden ist als kurzweilige Etüde angelegt, die aber nachhaltig Fragen zu Verfall und Vergänglichkeit aufwirft, vor allem in Hinblick auf sein Ausgangsmaterial. Als Urlaubsfilm ist es Teil jener Filmgeschichte, die zumeist verborgen bleibt: im Privaten, in den Wohnzimmern vor sich hinmodernd, verkümmernd, im Begriff zu verschwinden.“
(Lukas Maurer)
„Die beiden Protagonisten eines alten Urlaubfilms werden einer chemikalischen Zersetzung des Filmmaterials ausgeliefert: Eine badende Frau, vom Filmprojektor im Bild hin- und hergerissen, sucht vergeblich Halt am Sprungbrett des Swimming-Pools. Ihr Mann, der die Szene aus einer Hollywood-Schaukel beobachtet, springt in ein Meer aus abstrakten, verwaschenen Filmkörnern und verschwindet darin.
Alte Urlaubsfilme sind dem Verfall preisgegeben. Dem das Material ebenso wie dem des Gedächtnisses. Die Badenden macht Verfall und Vergessen sichtbar: So wie das Trägermaterial einer Zersetzung ausgeliefert wird, so erlischt auch die Erinnerung an das, was einmal auf ihm zu sehen war.“
(Viennale Katalog, 2003)
Rooms | 2013 | 10 min | Farbe
ein Film von Johannes Hammel |Musik: Heinz Ditsch, Bernhard Fleischmann, George W. Johnson
„Rooms erkundet den investigativen, streng subjektiven Blick des Amateurfilms: Anonyme Paare treten auf, posieren oder geben sich unbeobachtet, man feiert, trinkt und küsst sich. Die Tapeten, Vorhänge und Hauskleider sind von floralen Mustern dominiert. Die sanften Wellen eines goldfarbenen Meers rollen an den Strand, wie in einer bewegten Fototapete. Nach surrealem Zwischenspiel – eine Gruppe von Flamingos watet durch ein Zimmer, in dem das Wasser knöchelhoch steht – fällt der Blick der Kamera, von der Feuerleiter eines Hauses aus, in die Straßen einer amerikanisch anmutenden Stadt.“
(Stefan Grissemann)
Family Portraits | 2024 | 30 min | Farbe und s/w
Regie: Johannes Hammel | Buch: Johannes Hammel |Darsteller*innen: Karl Fischer, Susi Stach, Mirella Hammel, Carl Hoess, Lennart Preining | Kamera: Johannes Hammel | Schnitt: Johannes Hammel | Originalton: Jan Zischka, Andreas Hamza | Musik: Heinz Ditsch, Bernhard Fleischmann, George W. Johnson | Künstlerische Mitarbeit: Maria Kracikova, Jan Zischka, Jakob Fischer, Josephine Ahnelt | Uraufführung: Diagonale '24
„Wie ein kameraführender Jazzmusiker adaptiert Johannes Hammel den Orpheus-Mythos in freier Form. Mit surrealen und komödiantischen Szenen, Found Footage sowie verspielten Verweisen auf das Kino durchläuft Family Portraits zahlreiche Metamorphosen, die nie in Verdacht geraten, einer wie auch immer gearteten Grammatik filmischen Ausdrucks zu folgen. Stattdessen verdichtet Hammel seinen lustvollen Bildertanz von Kindern und Erwachsenen, Geistern und Engeln zu einer offenen Auseinandersetzung mit der schmalen Grenze, die das Leben vom Tod trennt. Diese verläuft als feine Linie mitten durch das Gehäuse der Filmkamera, die in einer herrlich kauzigen Szene wie eine illegale Waffe im Hotelzimmer verkauft wird. Startet man die Mechanik dieses Apparats, landet man direkt in der Unterwelt. Versprochen.“
(Patrick Holzapfel)